SCHWERPUNKT

Grüner wird’s noch

Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Industrie, Mobilität und Energieversorger müssen Produktion und Prozesse dekarbonisieren. Unternehmen setzen dabei auf Wasserstoff, der ohne CO2-Ausstoß erzeugt oder bei dem das Treibhausgas abgeschieden und gespeichert wird – für manche bedeutet das einen Technologiewandel.

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asserstoff spielt in einer ganzen Reihe von industriellen Prozessen eine wichtige Rolle. In stofflicher Form kommt er etwa in der chemischen Industrie, bei der Herstellung von Ammoniak und der Rohölveredlung in Raffinerien zum Einsatz. Der Bedarf an Wasserstoff für diese Anwendungen liegt in Deutschland aktuell bei etwa 55 TWh im Jahr, umgerechnet sind das rund 1,65 Millionen Tonnen. Der überwiegende Teil des eingesetzten Wasserstoffs wird durch Dampfreformierung aus Erdgas gewonnen. Bei dem Verfahren entstehen pro Tonne Wasserstoff etwa zehn Tonnen CO2 – ein dickes Minus in der Klimabilanz.

Die gute Nachricht ist: Technisch lassen sich die industriellen Prozesse auf klimafreundlicheren grünen oder blauen Wasserstoff umstellen. Grüner Wasserstoff wird durch Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt, bei seinem blauen Pendant ist weiterhin Erdgas der Ausgangsstoff, das anfallende CO2 wird allerdings abgeschieden und gespeichert (Carbon Capture and Storage, CCS).

Portrait von Michael Schneider vor einem natürlichen Hintergrund, lächelnd
INTERVIEW
„Wasserstoff ist ein echter Alleskönner“
Michael Schneider, Geschäftsführer der Energienetze Bayern, über das Potenzial des Energieträgers für die Energiewende.

Politisch ist die Umstellung auf erneuerbaren und dekarbonisierten Wasserstoff gewollt, um die Klimaziele zu erreichen. So sieht die im vergangenen Jahr angepasste EU-Erneuerbaren-Richtlinie (RED III) vor, dass von 2030 an 42 Prozent des verbrauchten Wasserstoffs in der Industrie aus erneuerbaren Energiequellen erzeugt werden müssen. Bis zum Jahr 2035 soll der Anteil auf 60 Prozent steigen. Allein dafür sind bis zu 2,5 Millionen Tonnen (83 TWh) Wasserstoff nötig, weil der Bedarf zusätzlich steigt.

77 %
des Energiebedarfs in der Glasindustrie werden durch Erdgas gedeckt (Stand 2020).
51 Mio. t CO₂
hat die Stahlindustrie 2022 in Deutschland verursacht.
28 t CO₂
lassen sich pro Tonne eingesetztem klimaneutralen Wasserstoff beim Stahl einsparen.
WASSERSTOFFBEDARF: TENDENZ „ERHEBLICH“ STEIGEND

Klimafreundlicher Wasserstoff gewinnt als Energieträger auch deshalb zunehmend an Bedeutung, weil er fossile Brennstoffe weitgehend CO2-neutral ersetzen kann – im Mobilitätssektor, in der Stromerzeugung, bei der Wärmeversorgung. „Wasserstoff und wasserstoffbasierte Energieträger werden dabei vorwiegend dort zum Einsatz kommen, wo eine direkte Elektrifizierung technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht sinnvoll ist“, schreibt dazu die Wirtschaftsweise Veronika Grimm in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Wirtschaftsdienst“.

Vor diesem Hintergrund beziffert die Bundesregierung den gesamten inländischen Wasserstoffbedarf im Jahr 2030 auf 2,8 bis 3,9 Millionen Tonnen (95 bis 130 TWh) mit „erheblich“ steigender Tendenz bis 2045. Denn, so heißt es in einer Erklärung zur Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie, grüner Wasserstoff werde auch für die Sektorenkopplung immer wichtiger: „Andernfalls abgeregelter Strom aus Erneuerbaren-Energien-Anlagen, der aufgrund ausgelasteter Stromnetze zum betreffenden Zeitpunkt nicht mehr eingespeist und daher verloren gehen würde, soll via Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt werden und in Industrie, Verkehr und Gebäuden flexibel genutzt werden.“

Den Unternehmen vor allem in den energieintensiven Branchen fordert die Umstellung auf Wasserstoff eine enorme Transformationsleistung ab, die mit hohen Kosten, Veränderungen in den Lieferketten sowie Auswirkungen auf Prozesse und Produktqualität verbunden sein kann. Der Vorstandsvorsitzende des Stahlerzeugers Salzgitter AG, Gunnar Groebler, sagt: „Die Transformation unseres Stahlstandortes in Salzgitter ist die mit Abstand größte Investition, die der Konzern seit dem Börsengang 1998 zu stemmen hat.“ Allerdings, so Groebler weiter, seien die neuen Einsatzstoffe, erneuerbarer Strom und damit erzeugter Wasserstoff, mindestens anfangs knappe Güter. Deshalb steigt das Unternehmen jetzt selbst in die Wasserstofferzeugung ein und errichtet auf dem Werksgelände einen Elektrolyseur, der mit grünem Strom arbeitet, um einen Teil des erwarteten Bedarfs selbst decken zu können.

Ähnliche Umstellungsprozesse durchläuft das Unternehmen Schott, einer der weltweit führenden Spezialglashersteller mit Sitz in Mainz. Die Glasindustrie zählt zu den energieintensiven Branchen mit einem großen CO2-Fußabdruck. Pro Jahr verursacht sie in Deutschland etwa fünf Millionen Tonnen Treibhausgase – überwiegend durch den Einsatz von Erdgas während des Schmelzprozesses. Durch die Verwendung von grünem Wasserstoff könnten allein bei der Schmelze etwa 3,3 Millionen Tonnen des Treibhausgases in der Glasindustrie insgesamt eingespart werden.


„ES MÜSSEN PIPELINES HER“

Die Schott AG hat den Einsatz von Wasserstoff in dem Projekt „H2 Industries“ schon ausgiebig getestet. „Es hat sich dabei gezeigt, dass eine Umstellung von fossilen Brennstoffen auf Wasserstoff in der Glasproduktion möglich ist, ohne Kompromisse bei der Qualität einzugehen“, sagt Jonas Spitra, der die Kommunikation im Bereich Nachhaltigkeit leitet. Weitere Tests sollen jetzt folgen – an großen Schmelzwannen in der Produktion. „Doch dafür benötigen wir eine rohrgebundene Versorgung. Also auf gut Deutsch: Es müssen Pipelines her“, sagt Spitra. Das sei aber nur die Basis. Vor allem müssten grüne Energieträger zu wettbewerbsfähigen Preisen in industriellem Maßstab zur Verfügung stehen. „Unternehmen aus den energieintensiven Branchen brauchen klare Weichenstellungen für den möglichst raschen Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur für Grünstrom und grünen Wasserstoff in Deutschland“, sagt Spitra. „Erst dann lohnt sich unser Engagement – für das Klima und für die Wettbewerbskraft der Industrie in Deutschland.“

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Veröffentlicht:
Juni 2024
Illustration: C3 Visual Lab
Foto: Energienetze Bayern
Text: Ralf Mielke

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