uf dem Werksgelände des sauerländischen Unternehmens R.D.M. Arnsberg steht ein schlanker Schornstein, der wie ein riesiger Zeigefinger in den Himmel ragt. Der Schlot gehört zu einem Kohlekraftwerk, das seit 1955 die dort angesiedelte Fabrik mit Energie versorgt. Das Werk liegt direkt an der Ruhr, dem Fluss, der einst einer ganzen Region den Namen gab und sich – auch dank Renaturierungsmaßnahmen – gemächlich durch die hügelige Landschaft schlängelt. Seit mehr als 120 Jahren steht hier eine Produktionsstätte, ursprünglich zur Karbiderzeugung. Seit 1903 wird hier Karton hergestellt.
Im Jahr 2008 hat die RDM Group – Reno de Medici – das Werk übernommen. Der Konzern mit Hauptsitz in Mailand ist der führende Hersteller im Bereich Recyclingkarton in Europa. Während gestrichener Karton hauptsächlich an den europäischen Markt geliefert wird, stellt Vollpappe weltweit ein führendes Segment dar, einschließlich der USA und Asien. In Arnsberg werden pro Jahr etwa 220.000 Tonnen überwiegend gestrichener Karton produziert, der etwa als Decklage für Wellpappe zum Einsatz kommt. R.D.M. Arnsberg setzt für die Produktion zu 99 Prozent Altpapier ein und trägt damit entsprechend dem Kreislaufwirtschaftsgesetz zur lokalen stofflichen Verwertung dieser Ressource bei.
Die Zellstoff- und Papierindustrie zählt wie die Chemie-, Pharma- und Metallbranche sowie die Glasproduktion zu den energieintensiven Industrien in Deutschland – und zu jenen mit besonders hohem Ausstoß von Treibhausgasen. Die Herstellung von Karton braucht Energie in Form von Strom für den Antrieb von Maschinen, Pumpen und Geräten sowie in Form von Wärme, die für die Trocknung des Rohstoffs vor der Weiterverarbeitung aufgewendet wird. Der Branchenverband „Die Papierindustrie“ beziffert den jährlichen Energiebedarf für die Produktion von Papier, Pappe, Karton und Co. auf etwa 60 Terawattstunden und die damit verbundenen CO₂-Emissionen auf rund zwölf Millionen Tonnen. Die Betriebe der Branche stehen daher vor enormen Herausforderungen, wenn es um die Dekarbonisierung geht.
Der Veränderungsdruck spiegelt sich auch im Werk R.D.M. Arnsberg wider. Angesichts langfristig steigender Preise im CO₂-Zertifikatehandel besteht nicht nur ökologischer, sondern auch ökonomischer Handlungsbedarf. Vor allem bei der Energieversorgung: Das Steinkohlekraftwerk, das als Kraft-Wärme-Kopplungsanlage betrieben wird, wurde 2019 in einem ersten Schritt von der stromgeführten auf die wärmegeführte Fahrweise umgestellt. „Dadurch verringern sich die CO₂-Emissionen des Standorts um etwa 25 Prozent“, sagt Joachim Miese, der den Kraftwerksbetrieb leitet. Das Kraftwerk sei trotz seines Alters in technisch gutem Zustand. Aber, so räumt Miese ein, für das aufziehende CO₂-neutrale Zeitalter sei der Einsatz von Steinkohle doch eher ungeeignet.
Im nächsten Schritt ist deshalb die Errichtung eines Gas-und Dampfturbinenkraftwerks (GuD) geplant. In einer GuD-Anlage wird das mehrere hundert Grad heiße Abgas der Gasturbine mittels eines Abhitzekessels in Dampf umgewandelt. Der Wasserdampf treibt anschließend die Dampfturbine an. So kann ein Gesamtwirkungsgrad von 90 Prozent erreicht werden. „Für uns ist Erdgas eine wichtige Übergangstechnologie“, sagt Miese. Die CO₂-Emissionen sollen durch das neue Heizkraftwerk signifikant reduziert werden – das Potenzial liegt bei gut 40 Prozent. Langfristig könnten es sogar noch mehr sein: „Die Gasturbinenanlage ist H₂-ready“, sagt Miese. Das Kraftwerk könnte schon zum Start mit bis zu 20 Prozent Wasserstoffanteil betrieben werden, späterer Ausbau möglich. Miese setzt auf die entsprechende Infrastruktur: „Energiepolitisch muss das schnelle Hochfahren der Wasserstoffwirtschaft die vorrangige Aufgabe sein“, sagt er.
Das haben die politischen Akteure erkannt. Die Nationale Wasserstoffstrategie soll dafür sorgen, bis zum Jahr 2030 zehn Gigawatt Elektrolysekapazität aufzubauen. Damit könnten laut Bundesregierung zwischen 30 und 50 Prozent des voraussichtlichen Wasserstoffbedarfs von etwa 95 bis 130 TWh gedeckt werden. Bis 2032 soll zudem ein knapp 10.000 Kilometer langes Wasserstoffnetz entstehen – ein ambitionierter Zeitplan. Damit der Wasserstoff klimaverträglich ist, muss zugleich auch die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Und, so mahnt Miese, die Umstellung auf Wasserstoff müsse sich wie jede Investition in Klima- und Umweltschutz für die Unternehmen rechnen. Die Margen in der Papierindustrie sind gering. Wer zu nicht konkurrenzfähigen Kosten produziert, droht schnell vom Markt zu verschwinden.
R.D.M. Arnsberg setzt deshalb nicht nur in Zukunft auf klimafreundliche Energie, sondern schon heute auf Maßnahmen, die den Energieverbrauch und damit den CO₂-Ausstoß sowie die Kosten senken. Dafür hat sich das Unternehmen Unterstützung geholt: Zusammen mit Uniper hat R.D.M. 2023 am Standort Arnsberg ein Transformationskonzept entwickelt, eine Roadmap zur Dekarbonisierung. Das Ziel: Innerhalb von zehn Jahren sollen die klimaschädlichen Emissionen um 40 Prozent reduziert werden – mindestens. „Wir wollen am liebsten noch mehr schaffen“, sagt Joachim Miese.
Auf Seiten von Uniper hilft Timo Wenzel bei der Identifizierung konkreter Maßnahmen. Wenzel gehört bei dem Energieunternehmen zum Team „Future Customer Solutions“, das Industriebetrieben Wege zur CO₂-Neutralität aufzeigt. „Wir ermitteln und lokalisieren als Erstes die Energiebedarfe und darauf basierend Optionen, diesen Bedarf mit weniger und wenn möglich umweltfreundlicher Energie zu decken“, sagt Wenzel. Dabei werden dem CO₂-Einsparpotenzial immer auch die Investitionskosten und künftige Betriebskosten für die Umsetzung der Maßnahme gegenübergestellt. „Wir dürfen die Unternehmen nicht überfordern“, sagt Wenzel. „Sie müssen die Roadmap auch wirtschaftlich durchhalten.“ Mit seinem Team bringt er neben technischer Expertise auch die Markteinschätzungen von Uniper in das Konzept ein.
Bei R.D.M. Arnsberg haben sie erste Maßnahmen aus dem Transformationskonzept technisch und wirtschaftlich ausgearbeitet. So wird etwa die Möglichkeit betrachtet, eine Energierückgewinnung an der Kartonmaschine zu installieren, um den Bedarf für Frischdampf zu reduzieren. An mehreren Stellen wurden Großgeräte durch energiesparende Alternativen ersetzt. Durch den Neubau der Rohwasseraufbereitung und den Einsatz zweier Hochbehälter konnte zum einen der Energiebedarf für die Wasseraufbereitung als auch der Energiebedarf für die Versorgungspumpen reduziert werden. Im Zuge dieses Projektes wurde außerdem die Kühlwasserversorgung von Grundwasser auf Flusswasser umgestellt; somit kann das aufgewärmte Kühlwasser für Produktionszwecke verwendet werden. Hieraus resultiert eine erhebliche Reduzierung des Rohwasser- und Energiebedarfs.
Noch steht der Zeitpunkt nicht fest, an dem das alte Kohlekraftwerk abgeschaltet wird. Aber die Zukunft der Energie hat für R.D.M. Arnsberg begonnen.