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JETZT GEHT'S LOS!?

Entscheidender Durchbruch oder ein Fall von zu wenig, zu spät? Als im Februar die Eckpunkte der Kraftwerksstrategie vorgestellt wurden, war die Erleichterung groß. Energiewirtschaft und Industrie befürworten die Pläne im Grundsatz – aber noch sind zu viele Fragen offen. „g – Das Gasmagazin“ hat Experten gefragt, was jetzt passieren muss.

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ber Monate haben die Spitzenvertreter der Regierungskoalition hart um das lang herbeigesehnte Konzept zum Umbau der deutschen Kraftwerkslandschaft gerungen. Seit Februar liegen die Eckpunkte dafür auf dem Tisch. Danach fördert der Bund den Bau und Betrieb wasserstofffähiger Gaskraftwerke, die bis zum Jahr 2032 insgesamt zehn Gigawatt Stromleistung in den Markt bringen und die Kohlekraftwerke ersetzen sollen. Damit ist endlich der Weg frei für die H2-Kraftwerkstechnik und den späteren Umstieg auf erneuerbaren, komplett emissionsfreien Wasserstoff. Einen zusätzlichen Schub für weitere Investitionen in effiziente H2-ready-Gaskraftwerke verspricht sich die Bundesregierung von einem sogenannten Kapazitätsmarkt, wie ihn andere EU-Staaten schon haben.

KEINE KLARE STRATEGIE ZU ERKENNEN

Das Problem: Die Eckpunkte für den Bau moderner Gaskraftwerke sind vage formuliert und lassen noch immer keine klare Strategie erkennen. Zudem lässt die Bundesregierung den genauen zeitlichen Ablauf für den Umstieg auf H2-ready-Gaskraftwerke offen – keine guten Voraussetzungen, um die dringend benötigten Investitionen in den Gaskraftwerksbau voranzutreiben. Immerhin: Trotz vieler ungeklärter Fragen hat die Bundesregierung eine grobe Richtung vorgegeben, wie die deutsche Kraftwerkslandschaft künftig aussehen soll. Energiewirtschaft und Industrie zeigen sich deshalb auch nur zurückhaltend zufrieden mit dem Ergebnis: „Neue Back-up-Kapazitäten sind unverzichtbar für die Energiewende sowie für die künftige Versorgungssicherheit und Netzstabilität in Deutschland“, kommentiert Stefan Kapferer, Chef des Übertragungsnetz­betreibers 50Hertz.

Denn mit dem weiteren massiven Zubau der volatilen Erneuerbaren wie Windenergie und Photovoltaik und dem geplanten vorgezogenen Ausstieg aus der Kohleverstromung bereits im Jahr 2030 steigt das Risiko von Netzinstabilitäten und einer Stromlücke durch Dunkelflauten – und damit die Notwendigkeit, flexible, grundlastfähige Gaskraftwerke als Back-up-Lösung vorzuhalten. Die Kraftwerke der neuen Generation lassen sich ganz nach Bedarf schnell und flexibel hoch- und wieder herunterfahren – eine ideale Ergänzung zur schwankenden Leistung durch Sonne und Wind und ein wichtiger Baustein für die Dekarbonisierung der Stromerzeugung.

Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) begrüßt die grundsätzliche Einigung der Bundesregierung über die Förderung zum Bau moderner H2-ready-Gaskraftwerke. Damit gehe die Bundesregierung „einen längst überfälligen Schritt, um die Stromversorgung in Deutschland zu sichern“, so der stellvertretende BDI-Hauptgeschäftsführer Holger Lösch. Die Ampelkoalition müsse jedoch dringend nachlegen und eine detaillierte Kraftwerksstrategie erarbeiten. Lösch warnt: „Um Investitionsentscheidungen zu ermöglichen, ist jetzt eine schnellstmögliche Konkretisierung und Umsetzung der in der Einigung enthaltenen Ankündigungen und eine sehr rasche Klärung der noch offenen Fragen notwendig.“

Den Zeitplan für die Umsetzung sieht der BDI ebenfalls kritisch: „Für den von der Koalition bis 2030 angepeilten Kohleausstieg kommt der Beschluss reichlich spät.“ Mit dieser Kritik steht der BDI nicht allein da. Auch Erik Zindel, Manager beim Gasturbinen-Hersteller Siemens Energy, sieht bei der Umsetzung der Kraftwerksstrategie ein Zeitproblem. Er geht nicht davon aus, dass bis zum Ende der Dekade genug Gaskraftwerkskapazität in Betrieb genommen wird, um alle stromerzeugenden Kohle­kraftwerke vom Netz zu nehmen. „Der Zeitplan wird kaum einzuhalten sein“, sagt Zindel und verweist darauf, dass der Bau eines Gaskraftwerks inklusive Planung und Genehmigung etwa sechs bis sieben Jahre in Anspruch nehme. Daran könne auch die von der Bundesregierung angekündigte substanzielle Beschleunigung der Genehmigungsverfahren nicht allzu viel ändern.

„Rasche Klärung
offener Fragen
notwendig.“
Holger Lösch
Hauptgeschäftsführer BDI

Denn die Gasturbinen für die neuen Kraftwerke können nicht auf Knopfdruck produziert werden. „Die Branche hat in den vergangenen Jahren sehr viel Kapazität abgebaut“, so Zindel. Das könne bei steigender Nachfrage zu Lieferengpässen bei einigen Kraftwerkskomponenten führen. Die Turbinennachfrage steige international merklich an. Anfragen kämen vermehrt auch aus anderen europäischen Staaten sowie den USA und dem Nahen Osten. „Siemens Energy und andere Hersteller haben grundsätzlich Kapazitäten, die kommenden deutschen Projekte bei uns unterzubringen, aber mit Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette könnte es eng werden, wenn alle Projekte gleichzeitig errichtet werden sollen.“

ZEHN GIGAWATT REICHEN NICHT AUS

Der Aufbau von Produktionskapazitäten entlang der gesamten Wertschöpfungskette funktioniere nicht von heute auf morgen, so Zindel. „Schließlich geht es nicht nur um Kapazitäten in unseren Fabriken, sondern auch um die unserer Lieferanten.“ Schon jetzt hätten einige Komponenten wie große Schmiedeteile Lieferzeiten von bis zu drei Jahren. Folglich sei ein vorgezogener Komplettausstieg aus der Kohleverstromung bereits 2030 wenig realistisch. Zindels Prognose: „Wir werden zwar Anfang der 2030er-Jahre einen großen Teil der Kohlekraftwerke aus der Stromproduktion nehmen können, müssen aber einige Anlagen länger in der Reserve halten.“

Und zwar so lange, bis genügend grundlastfähige Gaskraftwerkskapazitäten stehen, damit Kohle komplett aus dem Strommarkt verschwindet. Nach Einschätzung von Energieexperten reichen die von der Bundesregierung angepeilten zehn Gigawatt Gaskraftwerksleistung bis 2032 ohnehin nicht aus. „In der Energiewirtschaft wird damit gerechnet, dass bis zu 20 Gigawatt Gaskraftwerksleistung nötig sein werden, um alle Kohlekraftwerke vom Netz nehmen zu können“, sagt 50Hertz-Chef Kapferer. „Für den genauen Bedarf an neuen Kraftwerken wird aber auch entscheidend sein, wie sich der Stromverbrauch genau entwickelt. Die zehn Gigawatt Leistung seien ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin.

EKLATANTES ZEITPROBLEM

Zusätzlichen Schwung für den weiteren Aufbau von Gaskraftwerksleistung soll ein marktlicher, technologieneutraler Kapazitätsmarkt bringen, dessen konkrete Ausgestaltung bis zum Sommer feststehen und der spätestens Mitte 2028 greifen soll. Doch auch hier drängt die Zeit. Denn die neuen Gaskraftwerke müssen schnell ans Netz, damit der Kohleausstieg und damit die Energiewende gelingen können.

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„Die Branche hat sehr viel Kapazität abgebaut.“
Erik Zindel
VP Generation Sales bei Siemens Energy

Bislang steht lediglich ein holzschnittartiger Plan, um einen Anreiz für Investitionen in Gaskraftwerke zu schaffen. Dieser sieht vor, dass Kraftwerksbetreiber nicht nur nach produzierter Stromleistung, sondern auch nach bereitgestellter Kraftwerkskapazität vergütet werden. Denn die Anlagen werden nicht im Dauerbetrieb laufen, sondern nur an wenigen Tagen im Jahr als flexibles Back-up einspringen, wenn Wind und Sonne vorübergehend nicht genügend Energie liefern. Eine reine Vergütung nach produzierter Energie bietet folglich keinen ausreichenden wirtschaftlichen Anreiz, um Investitionen in Gaskraftwerke auszulösen. „Für die Energiewende und den Kohleausstieg ist es jedoch zwingend erforderlich, dass der Kapazitätsmarkt weitere Gaskraftwerkskapazität anreizt“, stellt Zindel klar.

Nach Auffassung zahlreicher Experten wie auch der Bundesregierung werden die Erneuerbaren allein aber die vollständige Dekarbonisierung der Stromerzeugung nicht stemmen können. Gaskraftwerke werden also auch künftig nötig sein, sie werden aber langfristig mit Wasserstoff betrieben werden. Die Umstellung ist für den Zeitraum zwischen 2035 und 2040 geplant, ein konkreter Termin dafür soll bis zum Jahr 2032 stehen. Auch in diesem Punkt verschiebt die Bundesregierung allerdings wichtige Antworten um Jahre in die Zukunft.

WEITERE SCHRITTE SIND SEHR SCHNELL NÖTIG

Ebenso unkonkret bleibt die Berliner Ampelkoalition bei der zentralen Frage, wo die flexiblen Gaskraftwerke gebaut werden sollen. In den vorgelegten Eckpunkten ist lediglich von „systemdienlichen Standorten“ die Rede, um die erneuerbaren Energien weiter ausbauen und die Klimaziele erreichen zu können. 50Hertz-Chef Kapferer plädiert für eine „ausreichende Regionalisierung der Back-up-Kraftwerke“. Eine kluge Standortwahl trage zur Systemstabilität bei und spare Kosten. Der BDI fordert, dafür die Bundesländer frühzeitig in die Entscheidungen zu den Standorten neuer Gaskraftwerke einzubeziehen. Schließlich wird die räumliche Nähe zu modernen Gaskraftwerken künftig auch eine wichtige Rolle bei den Standortentscheidungen von Industrieunternehmen spielen.

Einig sind sich alle Fachleute in einem Punkt: Die Eckpunkte der Kraftwerkstrategie sind ein wichtiger erster Schritt. Für die konkrete Planung und Umsetzung sind nun aber sehr schnell weitere Schritte nötig, damit alle Akteure Sicherheit haben und endlich wichtige Investitionsentscheidungen treffen können. Stellvertretender BDI-Haupt­geschäftsführer Lösch: „Jetzt müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um den Wasserstoff-Markthochlauf und den Aufbau der entsprechenden Infrastruktur zu beschleunigen.“

Die Eckdaten der Kraftwerksstrategie

Zukünftig sollen grundlastfähige Gaskraftwerke die volatilen Erneuerbaren ergänzen sowie die Stromversorgung jederzeit sicherstellen und so den Weg für die Energiewende freimachen.

Der Umbau soll in zwei Stufen verlaufen:

In Stufe 1 sollen wasserstofffähige Gas­kraftwerke mit einer Kapazität von zehn Gigawatt gebaut werden. Investoren erhalten eine Förderung, für die sie sich in Auktionen bewerben. Den Zuschlag erhält jeweils der Bewerber mit dem niedrigsten Fördergebot. Die erste von vier Auktionen über jeweils 2,5 Gigawatt Leistung ist für den Sommer geplant.

Stufe 2 sieht einen Kapazitätsmechanismus bis spätestens 2028 vor, der eine Vergütung der Kraftwerksbetreiber nach vorgehaltener Kraftwerkskapazität beinhaltet. Konkrete Pläne sollen bis zum Sommer vorliegen. Hintergrund: Die geplanten neuen Gaskraftwerke werden nicht kontinuierlich Strom erzeugen, müssen aber jederzeit flexibel in der Lage sein, Engpässe im Stromangebot auszugleichen, wenn die wachsende, aber schwankende Erzeugung aus Erneuerbaren temporär zu gering ist. Folglich werden die Gaskraftwerke voraussichtlich nur an wenigen Tagen im Jahr laufen. Eine Vergütung nach gelieferter Stromleistung wäre daher für Investoren unattraktiv.

Die Kosten für den Umbau des Kraftwerksparks belaufen sich nach Schätzungen auf 15 bis 20 Milliarden Euro innerhalb der nächsten 20 Jahre. Sie sollen aus dem Klima- und Transformationsfonds des Bundes gedeckt werden.

Der Betrieb der neuen Gaskraftwerke wird zunächst mit Erdgas und CO2-armem Wasserstoff erfolgen. 2032 soll schließlich die endgültige Entscheidung darüber fallen, wann die Anlagen komplett mit grünem Wasserstoff betrieben werden sollen. Die Bundes­regierung peilt dafür einen Zeitraum zwischen 2035 und 2040 an.

Veröffentlicht:
Juni 2024
Illustrationen: Stefan Hollenbach, C3 Visual Lab

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